Wenn Frauen sich radikalisieren

Nicht nur Männer sind anfällig für extremistisches Denken

Medien betrachten die Radikalisierung von Männer und Frauen auf unterschiedliche Arten. Auch wenn Frauen seltener zu Gewalt greifen sind die Auswirkungen auf das Umfeld, aber auch auf die Aktivisten selbst gefährlich. Dieses Phänomen untersucht die Australierin Claire Lehmann:

„Anfang Mai trommelten Demonstranten in der Butler Bibliothek der Columbia University und riefen: „Free, Free Palestine!“ Als der Campus-Sicherheitsdienst die Türen des Lesesaals schloss und die Demonstranten praktisch einsperrte, verwandelten sich die Rufe in Flehen. Eine Person versuchte, zum Ausgang durchzubrechen, woraufhin es zu einem Handgemenge kam. „Du tust ihm weh, hör auf!“, rief ein Mädchen. Am Ende der Besetzung waren 80 Demonstranten festgenommen worden, darunter 61 Frauen.

Der Protest an der Columbia machte in den USA landesweit Schlagzeilen, doch das auffällige Geschlechterungleichgewicht unter den Teilnehmern blieb weitgehend unbemerkt. Dabei hat man es durchaus mit einem Muster zu tun. Ob Gaza, Klimawandel, Black Lives Matter oder Feminismus – die Überrepräsentation junger Frauen ist im progressiven Aktivismus zur Norm geworden. Und dieser Wandel zeigt eine hohe Anfälligkeit für ideologischen Extremismus.

Der Linksruck von Frauen ist ein globales Phänomen. Eine Studie aus dem Jahr 2020 über die britische Umweltbewegung Extinction Rebellion (eine Gruppe, die ähnlich der deutschen „Letzte Generation“ Verkehrsblockaden und Vandalismus betreibt) beschrieb diese als eine „stark feminisierte“ Protestkultur. Umfragen haben ergeben, dass die Teilnehmer von großen Klimademonstrationen weltweit zu etwa 60 Prozent weiblich sind. Auch neuere amerikanische „progressive“ Bewegungen  wie Black Lives Matter und die Gaza-Camps werden viele von der von Frauen gegründeten „Jewish Voice for Peace“ unterstützt, die wiederum selbst von Frauen ins gegründet wurde ud von Frauen geleitet und getragen wird.

John Burn-Murdoch veröffentlichte in der Financial Times Daten, die bestätigen, dass sich dieser Entwicklung über alle Kontinente erstreckt. In Südkorea, den USA, Deutschland und Großbritannien tendieren Frauen der Generation Z zu „hyperprogressiven“ politischen Positionen, während Männer derselben Altersgruppe ihre Position beibehalten oder sogar nach rechts gerückt sind. In den USA sind Frauen im Alter von 18 bis 30 Jahren laut Daten des Gallup-Instituts mittlerweile 30 Prozentpunkte „progressiver“ als ihre männlichen Altersgenossen.

Viele Berichte der jüngsten Vergangenheit befassen sich mit jungen Männern, die sich rechtsextremen oder frauenfeindliche Subkulturen anschließen. Die Medien – und die Gesellschaft insgesamt – schenken jungen Frauen in radikalen politischen Subkulturen weit weniger Beachtung oder sagen wir eher: Eine andere Form der Beachtung. Die Begriffe „Radikalisierung“ und „Frauen“ werden selten, wenn überhaupt, zusammen genannt. Dieses Versäumnis hat Konsequenzen, denn Radikalisierung ist kein rein männliches Phänomen.

Natürlich ist politisches Engagement nicht grundsätzlich ein Problem. Die Teilnahme junger Frauen an Klimaprotesten oder BLM-Märschen ist noch kein Beweis für Extremismus. Allerdings sind extreme Positionen immer auch Teil des politischen Aktivismus.

Die zunehmende Radikalisierung im Klimaaktivismus veranschaulichen dieses Muster. Letztes Jahr wurden drei weibliche Mitglieder der britischen Klimaschutzgruppe „Just Stop Oil“ sowie zwei männliche Mitglieder zu Gefängnisstrafen verurteilt, weil sie auf Schilder an einer Autobahn geklettert waren und die Polizei so gezwungen hatten, den Verkehr zu sperren. Einer der Männer erhielt fünf Jahre Haft, die anderen jeweils vier Jahre. Zwei Lastwagen kollidierten, und ein Polizist wurde verletzt. Zudem führte der durch diese „Protest-Aktion“ verursachte Verkehrskollaps dazu, dass Menschen Arzttermine, Prüfungen und Flüge verpassten.

Eine weitere beliebte Taktik bei Klimaprotestlern ist die Beschädigung oder versuchte Zerstörung von Kunstwerken: Vincent Van Goghs „Sonnenblumen“ wurde von zwei Aktivistinnen mit Tomatensauce beschmiert, Edgar Degas‘ „Kleine vierzehnjährige Tänzerin“ mit Farbe bespritzt.

Natürlich beteiligen sich auch Männer an radikalen linken Protesten. Doch wird bei Männern schneller von  Radikalisierung gesprochen, während das gleiche Phänomen bei Frauen ignoriert oder sogar romantisiert wird.

In Australien zementierte letztes Jahr eine Demonstrantin ihren Arm an ihr  Auto nahe einer großen Autobahn, um gegen eine Waffenausstellung in Melbourne zu protestieren. In Sydney blockierte eine 22-jährige Frau während der Hauptverkehrszeit den Harbour Tunnel, indem sie sich an ihr Lenkrad kettete. Eine weitere Täterin, Deanna „Violet“ Coco verursachte im März 2024 mit anderen Aktivisten die Sperrung West Gate Bridge, wodurch Rettungsdienste aufgehalten und eine Schwangere zur Entbindung am Straßenrand gezwungen wurde. Cocos Gefängnisstrafe wurde kürzlich im Berufungsverfahren durch das zuständige Gericht verdreifacht, nachdem ein Richter feststellte, dass sie in weniger als vier Jahren fünfzehn Mal vor Gericht erscheinen musste.

Doch die Institutionen und Medien übersehen den weiblichen Extremismus nicht nur – sie fördern ihn manchmal sogar aktiv. Elsa Tuet-Rosenberg, eine in Melbourne lebende Aktivistin, trug nach den Hamas-Anschlägen vom 7. Oktober 2023 dazu bei, über 600 jüdisch-australische Kreative zu doxxen. Hauptberuflich organisiert ihr Consultingunternehmen steuerfinanzierte „Antirassismus“-Workshops an Grundschulen. Clementine Ford, eine feministische Autorin mit einer großen Fangemeinde in den sozialen Medien, verbreitete Verschwörungstheorien über Israel, tat die Massenvergewaltigung israelischer Frauen am 7. Oktober als unbestätigt ab und beschuldigte die israelische Armee die Geiselnahmen inszeniert zu haben – und das alles, während sie weiterhin bei einem renommierten Verlag unter Vertrag blieb und als Rednerin bei großen öffentlichen Veranstaltungen auftrat.

Diese Dynamik zeigt sich wohl bei niemandem deutlicher als bei Greta Thunberg. Seit sie im Alter von 15 Jahren begann, die Schule zu schwänzen, um Maßnahmen gegen den Klimawandel zu fordern, wird Thunberg mit Zuspruch und auch Auszeichnungen geradezu überschüttet. Nach ihrer „How Dare You“-Rede vor den Vereinten Nationen wurde sie 2019 vom Time Magazine als jüngste Person zur  „Person Of The Year“ ausgezeichnet. Seitdem wurde sie mehrfach für den Friedensnobelpreis nominiert und erhielt eine Reihe von Auszeichnungen von Medien, philanthropischen, wissenschaftlichen und akademischen Institutionen, darunter mehrere Ehrendoktorwürden. Ganz gleich, was man von Thunbergs Aktivismus hält, es ist schwer vorstellbar, dass ein junger Mann weltweit dieselbe Bewunderung erfahren hätte. Ein männlicher Thunberg, der Kinder zum Schulschwänzen animiert, würde eher zum Nachsitzen verurteilt als zu den Vereinten Nationen eingeladen.

Thunbergs Werdegang veranschaulicht ein verbreitetes Muster: Radikales Verhalten junger Frauen wird nicht nur toleriert, sondern durch Auszeichnungen und institutionelle Unterstützung aktiv gefördert. Durch die stetige Bestätigung entsteht ein sogenanntes „Feedback Loop“, eine Rückkopplungsschleife. Die Anreizstrukturen ihres Klimaaktivismus, haben Thunberg motiviert ihren Aktivismus auf den Nahostkonflikt auszuweiten. „Wenn man als Klimaaktivistin nicht auch für ein freies Palästina und ein Ende von Kolonialismus und Unterdrückung weltweit kämpft“, erklärte die heute 22-jährige Aktivistin letztes Jahr auf einer Demonstration in Mailand, „dann sollte man sich nicht Klimaaktivistin nennen dürfen.“ Diese Forderung nach ideologischer Reinheit über verschiedene Anliegen hinweg ist ein typisches Merkmal weiblichen Radikalismus und ein Merkmal der intersektionalen Aktivistenkultur. In den Ursprüngen war der  Intersektionalismus zum besseren Verständnis verschiedener Formen von Benachteiligung und ihrer möglichen Überschneidungen konzipiert. Heute ist er ein Lackmustest für moralische Konformität – nicht nur bei Themen wie Klima und Gaza, sondern auch bei Themen wie Abtreibung. Abweichungen von der vorherrschenden Meinung gelten als Verrat. Radikale Frauen setzen Menschen gemeinhin nicht durch Gewalt unter Druck, sondern durch die Androhung von Ächtung und sozialer Ausgrenzung.

Es ist einfach solche Aktionen im Vergleich zur Gewalt männlicher Radikaler als belanglos abzutun. Frauen beteiligen sich selten Gewalttaten. Doch die Blockade von Infrastruktur und die Zerstörung von Kulturgütern fordern ebenfalls ihren Tribut – von der Öffentlichkeit, aber auch von den Aktivisten selbst. Die drohende Ausgrenzung führt gerade bei jungen Frauen zu sozialen Zwängen, die wiederum zu Angstbelastungen führen. Beunruhigend ist, dass dieses Phänomen weitgehend unerforscht bleibt. Immer mehr Wissenschaftler erforschen, wie und warum sich junge Männer radikalisieren, zeigen aber wenig Interesse daran, ähnliche Prozesse bei Frauen zu untersuchen.

Dennoch können Studien zur Moralpsychologie und zum Sozialverhalten wertvolle Hinweise auf die zugrunde liegenden Dynamiken geben. Die „Moral Foundations Theory“, entwickelt vom Sozialpsychologen Jonathan Haidt und seinen Kollegen, argumentiert, dass menschliches moralisches Denken auf einer Reihe intuitiver Verhaltensweisen beruht: Loyalität, Autorität, Fürsorge, Fairness und Reinheit („Purity“). Eine Studie aus dem Jahr 2020, die dieses Konzept in 67 Ländern untersuchte ergab, dass Frauen bei den drei letztgenannten durchweg höhere Werte erzielten als Männer. Das Fürsorge-Verhalten bezieht sich auf unsere Sensibilität für das Leid anderer – eine Erweiterung des Instinkts, der Eltern, insbesondere Mütter, dazu veranlasst auf die Not von Säuglingen zu reagieren. Fairness ist an Vorstellungen von Gerechtigkeit und Gleichheit geknüpft, während Reinheit – ursprünglich zum Schutz vor Krankheiten entstanden – sich als Wunsch nach ideologischer oder moralischer Sauberkeit manifestieren kann. Diese Tendenzen sind zwar in vielen Kontexten adaptiv, können junge Frauen aber auch besonders empfänglich für politische Narrative machen, die auf Emotionalisierung und der Bekämpfung von Ungerechtigkeit bis hin zum moralischem Absolutismus basieren. Es macht Frauen auch anfällig für Ideologien, in denen die Opferrolle als Währung gilt.

Die Art und Weise, wie junge Frauen ihr soziales Leben gestalten, verstärkt diese Anfälligkeit. Studien der Entwicklungspsychologin Joyce Benenson haben ergeben, dass weibliche Freundeskreise tendenziell weniger widerstandsfähig sind als die von Männern, und viele Frauen leiden unter großer Angst vor sozialer Ausgrenzung. Der Druck, sich einer Gruppe anzupassen, ist für Mädchen stärker als für Jungen.  Dies kann dazu führen, dass Mädchen Überzeugungen oder Ideen eher aus dem Wunsch nach sozialer Harmonie als aus echter Überzeugung unterstützen.

Diese Dynamik schafft perfekte Bedingungen für „Availability Cascades“ , ein soziales Phänomen (Cass Sunstein und Timur Kuran, 2007), bei dem eine Gruppe durch eine Kettenreaktion zu Überzeugungen gelangt. Nehmen wir beispielsweise Greta Thunbergs Aussage, dass Klimaaktivisten auch für die Befreiung Palästinas kämpfen müssen. In progressiven sozialen Kreisen, in denen Thunberg als moralische Autorität gilt, halten manche Mädchen dieses Argument vielleicht für nicht zutreffend – aber sie sagen es nicht. Kollektiv kann dieses Schweigen als allgemeine Zustimmung missverstanden werden und andere unter Druck setzen, ihre Ansichten ebenfalls anzupassen. Dieser künstliche Konsens kann sich wie ein Schneeballsystem anhäufen, da Einzelne davon ausgehen, dass alle anderen in ihrer Peergroup eine bestimmte Meinung teilen, ohne zu wissen ob dies auch tatsächlich zutrifft oder doch viele es anders sehen. Das Ergebnis ist ein fragiles System, das eher von Angst als von Überzeugung zusammengehalten wird.

Soziale Medien verstärken diesen Mechanismus. Online kann sich in weiblichen Freundeskreisen ein Zwang entwickeln, sich dem oberflächlichen Konsens durch das Teilen von Memes und Hashtags anzupassen. Plattformen wie Instagram und TikTok liefern einen Strom emozionalisierender Inhalte, was den Fürsorgeinstinkt aktiviert. Damit setzen sich junge Frauen dem ständigen Hinweis aus, dass ihre Sicherheit, Gruppenzugehörigkeit und ihr Selbstwertgefühl von der ihrer „reinen“ ideologischen Haltung abhängen. Das Ergebnis ist eine technologische und ideologische Vereinnahmung der weiblichen Psyche.

Wenig überraschend waren progressive junge Frauen die erste Gruppe, deren psychische Gesundheit sich nach der massenhaften Verbreitung von Smartphones und sozialen Medien ab etwa 2012 erheblich verschlechterte. Wie Haidt in seinem Buch „The Anxious Generation“ und seinem Newsletter „After Babel“ darlegt, wurden Mädchen der Generation Z online in einer Kultur sozialisiert, die auf übertriebener Wachsamkeit gegenüber Gefahren basiert und mit Forderungen nach moralischem Absolutismus einhergeht.

Diese neue Form der Radikalisierung funktioniert anders als die männliche Variante. Wenn die Ideologie weibliche Freundesgruppen erfasst, ist der Prozess weniger gewalttätig und eher beziehungsorientiert, angetrieben von Gruppenzwang, Emotionalisierung und der Angst vor sozialer Ausgrenzung. Sie gedeiht in scheinbar sicheren und fürsorglichen Räumen, doch hinter der Sprache der Gerechtigkeit verbirgt sich Zwang und eine brüchige Konformität.

Die Auswirkungen reichen über das individuelle Wohlbefinden hinaus und betreffen auch Vertrauen in Institutionen und sozialen Zusammenhalt. Wenn Mitgefühlsinstinkte fehlgeleitet werden und der Reinheitsinstinkt zum Zwang wird, entwickelt sich ein toxischer Absolutismus. Eine formale Studie zur weiblichen Radikalisierung müsste die Evolutionspsychologie, die Sozialpsychologie und die Anreizstrukturen untersuchen, die Extremismus belohnen. Das Erkennen dieses Musters ist der erste Schritt, um junge Frauen vor den fehlgeleiteten Narrativen zu schützen, die ihre moralische Sensibilität ausnutzen. Doch um es zu ändern, ist die Benennung des Problems nur der erste Schritt.“

aus dem Englischen von Aischa Schluter, zuerst erschienen in The Dispatch am 27.06.2025. Autorin: Claire Lehmann

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Autor: aischaschluter

Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen - von den kargen Früchten des Waldes.

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